Erfahrungsbericht von Familie G.

Gerne möchte ich euch auf diesem Blog immer wieder Erfahrungsberichte zur Verfügung stellen von Familien, die mit dem Homeschooling mittlerweile fertig sind, und darüber berichten, wie sie ihre Homeschool-Zeit als Familie erlebt haben und was aus den Kindern geworden ist.

Den Anfang macht Familie G. Ihre drei Kinder wurden 12 Jahre lang von ihren Eltern unterrichtet.

Wie es dazu kam

Sonja G. ist Deutsche, ihr Mann Schweizer. Sie haben zwei Töchter (29 und 26 Jahre alt) und einen Sohn (28 Jahre). Sie wohnten in Deutschland, als sie immer mehr realisierten, dass die zwei ältesten Kinder im öffentlichen Schulsystem in eine Box gepresst werden sollten, in die sie nicht hineinpassten. Einerseits war Langeweile da, andererseits war es schwierig, sie für die Hausaufgaben zu motivieren. „Die anfängliche Freude ‚ich gehe zur Schule’ verging nur allzu schnell und was wir von den Kindern hörten, wieviel Zeit die Lehrer verbrachten, um für Disziplin im Unterricht zu sorgen, hatte mit Lernen nicht mehr viel zu tun,“ sagt Sonja. Die älteste Tochter entwickelte in diesen ersten zwei Jahren in der Grundschule ihre Abneigung gegen Mathematik, die sie auch lange Zeit danach nicht mehr los wurde.

„Die anfängliche Freude ‚ich gehe zur Schule’ verging nur allzu schnell und was wir von den Kindern hörten, wieviel Zeit die Lehrer verbrachten, um für Disziplin im Unterricht zu sorgen, hatte mit Lernen nicht mehr viel zu tun“

Das Konzept „Homeschooling“ war ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht ganz fremd. Sonjas zwei ältere Schwestern wohnten in Nordamerika und hatten bereits in den achtziger Jahren mit Homeschooling angefangen. Obwohl Sonja anfangs sehr skeptisch darüber war und es eigentlich auch nicht so richtig verstand, ging ihr ein Licht auf, als ihre älteste Tochter eingeschult wurde. Die Eltern fingen an, sich mehr über Homeschooling zu informieren und dachten konkret darüber nach, Deutschland zu verlassen und die Bildung ihrer Kinder selber in die Hand zu nehmen, am liebsten in Kanada oder den USA. Sonja erinnert sich: „Der Plan und seine Ausführung dauerten ca. zwei Jahre. Wir behielten es für uns, weil wir Angst hatten, die Behörden würden uns die Kinder wegnehmen, wenn sie es erfahren.“ Im April 1998 lösten sie ihren Haushalt auf und zogen einige Monate zwischen drei Bundesländern umher, wohnend in Ferienwohnungen. „So war immer ein wenig Zeit gegeben, bis man sich ‚anmelden’ musste,“ sagt Sonja. „Dann nutzen wir die verschiedenen Sommerferienzeiten und konnten so jegliche Schulanmeldungen entgehen. Wir waren zu kurz an einem Wohnort, als dass man uns hätte belangen können.“ Im September darauf wanderten sie schliesslich nach Florida aus. Dort konnte dann das Homeschooling in aller Ruhe fortgesetzt werden.

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Familie G. wandert für das Homeschooling in die USA aus (1998)

Homeschool Stil

„Ich fühlte mich am Anfang unsicher und versuchte Schule zu Hause zu reproduzieren, merkte aber bald, dass das nicht der Sinn der Sache war,“ erinnert Sonja. „Wir fanden mit der Zeit zusammen unseren Stil, wie es zu unserer Familie passte. Irgendwann waren wir im Fluss und konnten ‚schwimmen’.“ Schon bald schlossen sie sich verschiedenen Homeschool Gruppen an, um den Kindern an vier Nachmittagen pro Woche die Möglichkeit zu geben, unter anderen Kindern zu kommen und Englisch zu lernen. Innerhalb von sieben Monaten sprachen sie fliessend Englisch. Danach waren sie fix bei einer Gruppe dabei. Diese Gruppe traf sich an einem Tag pro Woche, an dem verschiedene Themen (vorbereitet von verschiedenen Familien) durchgenommen wurden in den Fächern Geschichte, Naturwissenschaften und Biologie.

Diese Fächer wurden anhand einer Thematik unterrichtet, als Überbegriff/Ganzes statt aufgebrochen in Einzelfächer. Diese sog. „Unit-Studies“ wurden dann eine Zeitlang Teil des Alltags. So wurden Naturwissenschaften, Sprache, Mathe, Kunst und Geschichte in den Alltag integriert. Zum Beispiel beim Thema „Tiere“:

  • „Wilbur und Charlotte“ lesen (Literatur)
  • Eigene Geschichten über Tiere schreiben (Rechtschreibung, Aufsatz, Erfahrungsbericht)
  • Klassifikation von Tieren (Naturkunde)
  • Neue Wörter (Vokabular)
  • Auf welchen Kontinenten die Tiere vorkommen (Geographie)
  • Welchen Kontakt die Menschheit mit gewissen Tieren in der Vergangenheit hatte (Geschichte)

Ihr Motto war es immer, ganz praktisch zu lernen und die Lust am lebenslangen Lernen zu fördern. Sie waren oft mit dem Auto unterwegs und unternahmen Exkursionen, um möglichst viel zu erleben. „Ich versuchte, ihnen zu ermöglichen, in die Themen ganzheitlich einzutauchen,“ erklärt Sonja. Zum Thema „Revolutionskrieg“, zum Beispiel, lasen sie zuerst verschiedene Bücher über diese Zeitperiode aus verschiedenen Genres und arbeiteten an ihren Zeitstrahl, der an der Wand aufgehängt war. Dort klebten sie die wichtigen Persönlichkeiten dieser Zeit auf. „Wir bastelten, übten Kreuzstickerei, schrieben mit Feder und Tinte in verschnörkelter Schrift auf braunem Packpapier, diese wurden gerollt und mit Wachs versiegelt,“ sagt Sonja.

„Ihr Motto war es immer, ganz praktisch zu lernen und die Lust am lebenslangen Lernen zu fördern.“

Die Kinder lernten Gedichte dieser Zeit auswendig und ein Teil der Unabhängigkeitsdeklaration. Sie lernten über die Gründerstaaten, übten Kartenlesen und fertigen sog. „Scrapbooks“ über das Thema an. Sie nähten Kostüme der Kolonialzeit und fuhren dann nach Williamsburg, Virginia, ein erhaltenes Stadtteil der Kolonialzeit mit 4000 Angestellten, die diese Zeitperiode lebendig gestalten und wo die Kinder diese Zeit richtig erleben konnten. „Diese Aktivitäten begeisterten unsere Kinder und waren eine grosse Motivation. Wir brauchten sie nicht ‚zu zwingen’ das zu lernen. Wenn das Interesse geweckt war, kam der Ball ins rollen und sie hatten den ‚Drive’, sich selber zu bilden,“ erklärt Sonja.

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In Colonial Williamsburg (2002)

Dazu wurde täglich Mathematik geübt. Deutsch und Englisch wurden ausschliesslich durch das Lesen von Büchern gelernt. „Lesen war sehr beliebt, sie haben über die Jahre Hunderte von Büchern gelesen, teils ihre selber ausgesuchten, teils Biographien und historische Romane, die mit unseren Themen verbunden waren,“ erklärt Sonja. Und zwar auf Englisch und auf Deutsch. Durch das viele Lesen lernten die Kinder fast automatisch Grammatik und Rechtschreibung. Die älteste Tochter entwickelte eine richtige Begabung und Leidenschaft fürs Schreiben.

Ganzheitliches, praktisches Lernen

Nach ein paar Jahren begann die Familie G. auf ihrem 2-Hektar grossen Grundstück ihre Hobby-Farm: zuerst mit Hühnern und Gänsen und später dann auch mit Milchziegen und einem Gemüsegarten. Dadurch lernten die Kinder viel über das Thema „Landwirtschaft“ und sie traten schon bald dem Landwirtschaftsclub 4H bei, die ihnen eine Plattform für öffentliche Auftritte in vielen verschiedenen Formen gab. Ein paar Mal pro Woche fanden verschiedene Veranstaltungen in Form von Klubtreffen statt. Es gab Abgabefristen, Clubsitzungen, Ämter, Protokollführungen, Vorbereitungen für Wettbewerbe und vieles mehr. Dadurch entwickelten die Kinder ihre eigenen Interessen und lernten grösstenteils selbstgesteuert. „Die Ziegen wurden für die Shows, zu denen wir fuhren, trainiert und vorbereitet,“ erklärt Sonja. „Es wurde gemolken, Käse hergestellt, sowie andere Produkte aus Milch. Sie backten und verkauften samstags auf dem Farmer’s Market.“

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Die ersten Ziegen (2004)

Überhaupt war es für die Eltern wichtig, dass die Kinder früh lernten, Verantwortung zu übernehmen. Sie kamen auch mit zum familieneigenen Geschäft und halfen, die Waren zu verräumen oder mit dem Barcode-Leser Inventur aufzunehmen. Gemeinsam renovierten sie ihr Haus, machten Malerarbeiten, kleisterten Tapeten, nähten Gardinen, legten Pergoböden und nagelten Holzwände. Die Kinder hatten die Möglichkeit, bei Allem mitzumachen.

Ein typischer Tag

An einem typischen Wochentag lasen die Kinder oft bereits vor dem Frühstück in ihren Betten. Nach dem Frühstück wurden die Tiere versorgt, Eier eingesammelt und halfen sie beim Melken. „Gegen Schluss hatten wir 100 Hühner und 40 Ziegen, die alle versorgt werden mussten und ihre Ställe mussten ausgemistet werden.“ Um ca. 9 Uhr fing die sog. „Tischarbeit“ an: Schulaufgaben zu Hause am Tisch. Dies dauerte meistens nicht länger als zwei Stunden. Manchmal fiel diese Zeit auch aus, wenn Aktivitäten ausser Haus geplant waren. Nach der Arbeit am Tisch wurde im Haushalt mitgeholfen. „Hauswirtschaft war Teil des Heranwachsens. Mit 12 Jahren kümmerte sich jeder um seine eigene Wäsche und sie konnten einfache Gerichte kochen. Die Hausarbeiten wurden immer rotiert.“ Nach dem Haushalt kam das Mittagessen und danach waren die Kinder frei, ihren eigenen Interessen nachzugehen oder an ihren Projekten zu arbeiten. Sie waren viel draussen und bauten zum Beispiel an ihrem Abenteuerpark in unserem Wald, inklusiv Baumhaus und Zipline von Baumstand zu Baumstand. Am Abend wurden die Tiere wiederum versorgt und lasen die Kinder weiter in ihren Büchern. Oft wurde abends zusammen gesungen und musiziert. Vor dem Einschlafen wurde die Familienlektüre noch vorgelesen.

Positives und Negatives

Sonja liebte es besonders, ihren Kindern eine freie Kindheit zu ermöglichen, mit ihnen zu lernen und die Tage gemeinsam zu verbringen. Alles, was zusammen unternommen wurde, war gut für das Familienleben und den Zusammenhalt. Die drei Geschwister wurden dadurch zu unzertrennlichen, besten Freunden. Schwierig fand sie manchmal das viele Herumfahren und Chauffieren im Auto. Sonja hatte oft den Eindruck, zu viel unterwegs zu sein und wünschte sich manchmal mehr Ruhe und Verschnaufpausen. Auch kämpfte sie immer wieder mit der unterschwelligen Sorge, ob sie genug machten, ob Homeschooling schlussendlich doch zum Nachteil werden würde, wenn die Kinder wieder im System einsteigen wollten. Das alles gut kommen würde, wusste sie damals noch nicht.

„Aber wenn es mal nicht so läuft wie gewünscht und die Stimmung nicht gut ist – ‚sit back and relax’, nimm einen Schritt zurück und sehe den morgigen Tag als eine neue Chance.“

Auch der Druck von Dritten, dass etwas Bestimmtes erreicht werden musste, sie aber mehr Zeit brauchten, war schwierig. „Nicht alles verlief harmonisch,“ erinnert sich Sonja. „Es gab auch stressige und unbefriedigende Tage, an denen ich abends am liebsten aufgeben wollte, weil ich so frustriert war. Ich hatte bis zum Ende die Sorge, wir würden zu wenig tun. Diese Sorge lässt sich wohl nicht nehmen, bis man das Endresultat wirklich sehen kann. Aber wenn es mal nicht so läuft wie gewünscht und die Stimmung nicht gut ist – ‚sit back and relax’, nimm einen Schritt zurück und sehe den morgigen Tag als eine neue Chance.“

Was aus den Kindern geworden ist, könnt ihr im zweiten Teil lesen!

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