Warum wir keine Unschooler sind

Auch in der Schweiz hört man immer wieder das Wort „Unschooling“ oder „Freilernen“**. Angespornt vom Vorbild von André Stern, ist das Lager der Homeschooler oft unterteilt in „wir“ und „sie“ – die Unschooler oder eben Freilerner auf der einen Seite und die Homeschooler auf der anderen. Egal in welchem Teil des Lagers man sich befindet, ist man ziemlich fest davon überzeugt, im besseren Teil zu sein. Oder besser zu sein.

Die Kritik die zwischen den Lagern hin und her hagelt, ist demnach auch ziemlich heftig. „Eure Kinder lernen nichts!“ „Ihr macht ja einfach Schule zu Hause, dann können eure Kinder auch gleich in die Schule gehen!“ „Unschooling ist nicht erlaubt!“ „Ihr setzt eure Kinder unter Druck!“ „Eure Kinder lernen nie, mit Druck umzugehen!“ „Eure Kinder sind nicht frei!“

Ich selber stehe da ziemlich in der Mitte. Es hat in beiden Lagern etwas Gutes. Im Unschooling hat es sehr viele gute Ansätze, die ich nicht ignorieren möchte. Und trotzdem bekenne ich, dass wir keine Unschooler sind.

Unschooler

Was ich liebe am Unschooling:

Es ist frei und relaxend.
Es fokusiert auf das ganze Kind.
Es erlaubt interessen-geführtes Lernen.

Was ich nicht mag am Unschooling:

Es ist abhängig vom Antrieb des Kindes

Ja, es gibt wahrscheinlich tatsächlich diese Kinder, die am Morgen aufwachen und sich sofort gerne an ihre Mathe-Aufgaben setzen oder die gerne etwas Schwieriges lernen, auch wenn es sie nicht unbedingt interessiert. Aber meine Kinder sind leider nicht so. Heisst das, dass ich es in Ordnung finden sollte, wenn sie nichts lernen, was sie nicht interessiert oder wenn sie entscheiden dürfen, was sie den ganzen Tag machen möchten? Um ehrlich zu sein, meine Tochter hat noch nie wirklich gerne Mathematik gemacht. Wenn ich sie nicht immer wieder sachte dazu auffordere, sich auch der Mathematik zu widmen (aber mit besonderen Lehrmitteln, die sie ansprechen!), dann würde sie darin keine Fortschritte machen und Lernerfolge haben, und ich wäre dafür verantwortlich, dass sie in diesem Fach nicht wächst. Manchmal müssen wir, und damit meine ich auch unsere Kinder, etwas tun, das gut für uns ist, aber das wir nicht besonders gerne tun. Manchmal ist das Leben nicht nur ein Zuckerschlecken. Ausserdem hat unsere Tochter in all diesen Jahren mit regelmässigem Mathe-Unterricht gelernt, dass es auch Spass machen kann und dass sie eben doch keine Angst davor haben muss. Sie hat gelernt, dass wenn sie an etwas arbeitet, auch wenn sie es nicht so gerne macht, sie Erfolge sieht und das macht Freude.

Es ist abhänging von der Persönlichkeit des Kindes

Seien wir mal ehrlich miteinander, aber Kinder können auch manchmal wirklich faul sein, oder? Mein Sohn würde wohl am liebsten den ganzen Tag nur vor einem Bildschirm herumhangen, wenn ich die Bildschirmzeit nicht begrenzen und ihn dazu auffordern würde, seine Geige zu üben oder ein Buch zu lesen. Das ist doch auch unsere Aufgabe als Eltern: sie anzuleiten, zu führen, zu lenken und nicht umgekehrt. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir nicht daran interessiert sind, ihre Talente und Interessen zu fördern. Natürlich nicht! Aber es bedeutet, dass wir nicht erwarten können, dass sie komplett alleine ihre Bildung und ihre Förderung in die Hand nehmen. Denn, wenn wir ehrlich sind, sind ja Kinder sehr ähnlich wie wir. Auch wir wählen oft den Weg des geringsten Widerstands. Das tun sie auch. Und das ist kein gutes Fundament fürs Leben. Ich meine nur: wie einfach ist es, Eltern zu sein? Kinder zu erziehen? Das ist ja auch nichts für schwache Nerven, die bei jedem geringsten Widerstand aufgeben, oder?

Es braucht sehr viel Flexilibität und Aufwand meinerseits

Unschooling bedeutet ja nicht, dass ich mich meinen erwachsenen Aufgaben widme, nebenbei arbeite und die Kinder sich selber überlasse. Freilernen bedeutet, dass ich jederzeit als Coach für meine Kinder zur Verfügung stehe. Wenn meine Tochter einen Sessel aus Holz erschaffen möchte, muss ich und das Material bereit stehen, um ihr Unterfangen zu unterstützen. Wenn mein Sohn einen Computer zusammen bauen möchte, muss ich und das nötige Material bereit stehen, um sein Unterfangen zu ermöglichen. Das ist nicht nur eine Zeitfrage, sondern auch eine Geldfrage. Und das auch wirklich zu jeder Zeit, denn man weiss ja nie, wann das Kind sich für was interessiert. Und was, wenn es dann halbwegs merkt, dass es eben doch schwieriger war als gedacht, aufgibt und ein anderes Projekt anfängt? Zulassen? (Es soll ja frei sein.) Oder dann doch ermutigen, zuerst ein Projekt fertig zu machen, ehe ein anderes angefangen wird? Ganz ehrlich, das wäre mir zu viel Aufwand. Dafür hätte ich nicht die Nerven. Ich brauche auch für mich eine gewisse Struktur.

Da wir nun also keine Unschooler sind, wie gestalten wir denn unser Homeschooling?

  • Ich plane und organisiere im Hinblick auf die Stärken und Interessen der Kinder. Das gilt sowohl für die ausgewählten Lehrmittel, wie auch für frei gewählte NMG-Themen, organisierte Exkursionen und externe Kurse, die die Kinder in den Themen fördern, die sie besonders interessiert.
  • Ich bin geduldig und warte, bis sie körperlich und mental bereit sind zum Lernen. Wenn ich ihnen etwas präsentiere und merke, dass sie dafür überhaupt noch nicht offen sind, dann warte ich und zeige es ihnen zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal. Ein Thema oder ein Fach sollte kein ständiger Kampf sein. Wenn es ein Kampf ist, dann sind sie entweder noch nicht bereit (z.B. beim Lesenlernen), das Lehrmittel ist nicht das Richtige oder sie haben ganz einfach einen schlechten Tag.
  • Ich versuche sie sanft anzuleiten. Das Schlüsselwort ist sanft! Es ist vollkommen in Ordnung, wenn sie zunächst etwas Mühe mit etwas Bestimmten haben. Doch mit viel Geduld und Ermutigung, geht es meistens kurze Zeit später doch und haben sie einen Lernerfolg erlebt. Auch Versagen muss gelernt sein. Fehler machen tut gut! Und Versagen ist nur wirkliches Versagen, wenn daraus nichts gelernt wird.
  • Ich erlaube keinen Selbstmitleid. Wenn mein Sohn mal eine Mathe-Aufgabe nicht sofort begreift, rastet er aus, da ihm alles viel zu oft viel zu leicht in den Schoss fällt. Er jammert, dass er dumm und schlecht in Mathe ist (das Gegenteil ist der Fall!), und darauf gehe ich keinen Moment ein! Meistens sage ich ihm dann, dass aller Anfang manchmal schwer ist, dass er diese Erfahrung in seinem Leben noch mehr machen wird, weil es völlig normal ist, mal einen Fehler zu machen oder etwas nicht auf Anhieb zu begreifen. Ich ermutige ihn dann, noch einmal zu probieren oder schaue die Aufgabe noch einmal mit ihm zusammen an. Er darf einfach nicht aufgeben, nur weil er entmutigt ist. Manchmal braucht er eine kurze Pause, um zu Verschnaufen und neuen Mut zu fassen, aber Aufgeben ist in einer solchen Situation keine Option!
  • Ich habe eine Routine. Das ist kein strikter Stundenplan, jedoch haben wir eine grundlegende Routine, die den Kindern (und mir) hilft zu wissen, was sie erwartet. Sie wissen, dass sie pro Tag eine halbe Stunde lesen und ihre Instrumente üben sollen. Sie wissen, dass wir hauptsächlich am Morgen an verschiedenen Fächern und Themen dran sind, die abwechseln und grösstenteils je nach Lust und Laune getauscht werden können. Hauptsache, alle Fächer kommen einmal oder mehrmals in der Woche dran. Sie wissen, dass in der 6. und 7. Klasse auch mal etwas Arbeit am Nachmittag erwartet wird, meistens kommen dann die Fremdsprachen dran oder das Gestalten.
  • Unser Fokus liegt auf das Lernen im Leben. Wir lieben Exkursionen, an denen die Kinder von Experten und vor Ort ganz praktisch lernen. Wir diskutieren viel über alles, was in der Welt so abgeht und alle helfen mit allem mit im Haushalt. Sie lernen über Geld und Budgets, über Kleider waschen, Velos reparieren, das Versorgen von Tieren und den Umgang mit Menschen von anderen Kulturen. Im echten Leben. Nicht aus Schulbüchern.

Mit anderen Worten, Unschooling hat vieles zu bieten, aber ich denke, dass wir als Eltern aufpassen müssen, dass wir den Kindern nicht zu viel zumuten und unsere Verantwortung wahrnehmen, sie zu führen und anzuleiten. Diese Verantwortung können und dürfen wir nicht ihnen überlassen.

**Vom Gesetz her ist gänzlich freies Lernen in der Schweiz nicht erlaubt. In jedem Kanton besteht zumindest die Vorlage, dass der Lehrplan auch von Homeschool-Familien eingehalten wird. Persönlich bin ich der Meinung, dass dies bis ca. zur 3. Klasse ziemlich frei relativ schnell erreicht werden kann. Doch spätestens, wenn Mathematik und auch die deutsche Grammatik schwieriger wird, oder die Fremdsprachen dazu kommen und in NMG oder dann auch in der Oberstufe Themen verlangt werden, die nicht jede Familie automatisch im Alltag begegnet, wird es sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, mit gänzlich freiem Lernen den Lehrplan einzuhalten.

 

 

2 Kommentare

  1. Hey

    Danke für die Erörterung.

    wir stehen an einem ähnlichen Punkt zwischen Unterricht und nicht. Da meine Kinder noch nicht so alt sind (der Älteste in der 2. Klasse) macht Spielen einen grossen Teil unseres Lernens aus. Was auch ok ist und wohl als Unschooling gelten würde.
    Trotzdem ist es mir wichtig. Das Schreiben/Lesen und Mathe immer wieder drankommen. Das wir uns in einem NMG Thema vertiefen und mehr darüber lernen. Auch mehr, wie ich selbst weiss und nicht nur das Thema kurz streifen. Oft werden die Dinge bei uns dann verbunden. Indem wir zum Beispiel aktuell Zahlen zur Antarktis aufschreiben. (NMG, Schreiben, Mathe, Medien) Dies machen wir gemeinsam und so muss auch nicht ein Kind alles schreiben. Der Jüngste spielt normalerweise daneben etwas und hört einfach zu oder spricht auch mit.
    Manchmal ist es sehr chaotisch manchmal sehr emotional. Gestern kamen tausend Pläne der Kinder dazwischen, was sie alles machen möchten und so war gestern Werken angesagt und meine Pläne haben wir verschoben, doch das ist auch ok.

    Die Routine ist bis jetzt noch nicht so klar. Ich möchte diese aber gerne wieder mehr klären. So dass es den Kindern einfacher fällt an die Arbeiten ranzugehen.

    Liebe Grüsse Eva

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    • Liebe Eva, das tönt doch gut, wie ihr das macht. Man kann ja mit jüngeren Kindern wirklich sehr flexibel sein und trotzdem (oder gerade deswegen) lernen sie sehr viel. Was ich in den letzten sechs Jahren gelernt habe: die Bildung zu Hause sieht jedes Schuljahr anders aus!

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