Fast täglich frage ich mich, was mit meiner fleissigen, gehorsamen, lieben, respektvollen Tochter geschehen ist. Die junge Frau, mit der ich täglich durch das Leben gehe und der ich versuche, Mathematik, Deutsch, Franz und vieles mehr beizubringen, ist eine ganz andere als meine Tochter noch vor einem Jahr. Sie bockt und hat keinen Bock, schläft am liebsten den ganzen Morgen und sieht den Sinn hinter Mathematikaufgaben noch viel weniger als früher. Die Schuld gebe ich den Hormonen. Nicht meine – ihre!
Dieser Artikel kommt also direkt von der Front – von der Pubertätsfront – und ich kann nur eins sagen: ich merke, dass das Homeschooling während der Pubertät ganz anders ist als in jungen Jahren.
Andere Erwartungen
Ich denke, es ist wichtig, dass wir unsere Erwartungen an unsere Jugendlichen runter schrauben. Als Kinder waren sie vielleicht wie ein Schwamm und saugten alles auf. Unsere Tochter wollte es mir immer recht machen und genoss die intensive Zeit mit mir. Doch wenn wir daran denken, wie ihr Gehirn in dieser Zeit riesige Veränderungen durchmacht und dafür auch viel Energie gebraucht wird, ist es eigentlich logisch, dass ihre Energie manchmal nur für ihre Entwicklung und ihren Wachstum reicht und nicht mehr für die Schulaufgaben. Sie lernen in dieser Zeit so viel Wichtiges, was aber nicht immer sofort sichtbar ist, wie zum Beispiel abstraktes und komplexeres Denken.
„Es ist eigentlich logisch, dass ihre Energie manchmal nur für ihre Entwicklung und ihren Wachstum reicht und nicht mehr für die Schulaufgaben.“
Geduld und freie Tage
Die Hormonschwankungen machen den Jugendlichen an manchen Tagen extrem zu schaffen. Wir sollten unseren Töchtern zeigen, wie sie ihren Zyklus im Auge haben können und geduldig mit ihnen sein, wenn sie gerade ihre sehr emotionale Woche haben, in denen einfach fast nichts mehr so läuft wie sonst. Vielleicht sollten wir weniger Ferien planen, dafür mehr spontane freie Tage, genau für solche emotionale Zeiten.
Verständnis
Manchmal denke ich an meine Teenagerzeit zurück. Ich kann mich gut an explosive Konflikte mit meinen Eltern erinnern. Ich war auch nicht immer lieb! Im Gegenteil! Ich denke meine Mutter war oft froh, dass ich stundenlang in der Schule war und sie zu Hause ihre Ruhe hatte. Dies erleben wir als Homeschool-Familie nun anders, aber das heisst nicht, dass es schwieriger oder sogar unaushaltbar sein muss! Der Minimalismus, mit dem viele Jugendliche durch ihr Leben gehen, ist normal und gehört bei den meisten Teenagern dazu. Das bedeutet aber nicht, dass sie mal zu nichts werden! Das ändert sich wieder!
Routine und Flexibilität
Routine ist immer noch sehr wichtig in der Pubertät. Die Jugendlichen brauchen eine Beständigkeit und müssen sich auf ihre Eltern verlassen können. Wenn wir etwas sagen, müssen wir es auch meinen und durchziehen. Gleichzeitig können und müssen wir eine gewisse Flexibilität einfliessen lassen. Das Kind wird zum erwachsenen Menschen und möchte sich langsam von uns abnabeln und eine eigenständige Person mit eigenen Meinungen und Ideen sein. Dies müssen wir ihnen auch ermöglichen. Vielleicht möchte der Teenager mehr Eigenverantwortung für die Schulaufgaben übernehmen, oder selber planen, wie und wann sie sich das Material aneignet. Vielleicht müssen wir ganz neu mit ihnen über den Lehrplan und ihre Verantwortung reden und mit ihnen abmachen, wie viel noch von uns gesteuert wird und wie viel sie selber steuern möchten, z.B. wann sie lernen, wo sie lernen, wie sie lernen, welches Fach wann dran kommt, usw.
„Das Kind wird zum erwachsenen Menschen und möchte sich langsam von uns abnabeln und eine eigenständige Person mit eigenen Meinungen und Ideen sein.“
Verhandeln
Verhandlungen sind wichtig, damit unsere Jugendlichen sich respektiert und gehört fühlen. Manche Sachen sind nicht verhandelbar. Die müssen einfach gemacht werden und zwar richtig. Aber im Teenageralter müssen wir bereit sein, mehr zu verhandeln, flexibler zu sein, aber gleichzeitig auch etwas von unseren Kindern zurück zu verlangen. Wir müssen nicht ständig nachgeben, weil sie launisch sind, sondern können in einer Sache nachgeben, dafür in einer anderen Sache mehr von ihnen verlangen.
Genügend Schlaf
Überall kann man lesen, dass die meisten Jugendlichen chronischen Schlafmangel haben. Als Homeschooler denken wir oft, dass dies bei uns nicht der Fall sein kann, da die Kinder nicht bereits um halb sieben aufstehen müssen, um um halb acht in der Schule zu sein. Doch auch wir müssen achtsam sein! Bei Jugendlichen wechselt sich der Tagesrhythmus und das merken wir hier zu Hause sehr gut. Noch vor einem Jahr waren die Kinder immer um 21 Uhr im Bett, doch heute bringen wir unsere Tochter meistens nicht vor 22 Uhr ins Bett (und kurz danach ist auch meine Schlafenszeit!). Da Jugendliche in ihrem Alter 10-11 Stunden Schlaf brauchen pro Nacht, heisst das, dass sie sicher bis 8 oder 9 Uhr morgens schlafen sollte/darf. Dies ist bei uns noch ein wenig ein Dilemma, da Schnüseli gerne schläft, aber nachmittags nicht mehr gerne an ihren Schulaufgaben arbeitet. Hier geht es dann wieder um ihre Verantwortung dem Lehrplan gegenüber…
Informelles Lernen ist auch Lernen
Als Homeschool Familien haben wir die einmalige Möglichkeit, den ganzen Tag lang die intellektuellen Zeichen und Ansätze unserer Kinder zu bemerken und zu fördern. Sie lernen nicht nur wenn sie in ihren Schulbüchern arbeiten. Bei weitem nicht! Das Spannende an der Pubertät ist ja gerade ihre erweiterte intellektuelle Fähigkeit! Ich geniesse die spannenden Diskussionen am Esstisch oder im Auto und sogar am Bett. Eigentlich haben wir ja absolutes Handy-Verbot am Tisch, doch regelmässig muss ich mein Handy hervor nehmen, um die Antworten auf spannende Fragen nachzuschauen. Auch Dokumentarfilme schauen wir uns gerne gemeinsam an und diskutieren nachher darüber. Den ganzen Tag lang können wir ihnen verschiedene und neue Ideen und Erfahrungen anbieten, um ihren Intellekt zu kultivieren und ihnen zu helfen, neue Interessen zu entdecken. Unser Ziel ist es ja, ihre Liebe fürs Lernen zu fördern und nicht auszulöschen.
Wackeliger Boden
Ich war 33 als ich meine Tochter bekam. Das bedeutet, dass auch in mir gerade recht viel am Ändern ist auf hormoneller Ebene. Ich merke es zwar noch nicht so konkret im körperlichen Sinn, aber ich durchlaufe zurzeit ganz sicher auch eine zweite Pubertät. Das macht das Ganze natürlich noch wackeliger. Nicht nur meine Tochter, sondern auch ich bin gerade etwas sehr emotional, aufbrausend und leicht genervt. Da hilft nur gegenseitiges Verständnis, gute Gespräche, auch mal eine gemeinsame Shopping-Tour und ein kitschiger Mädchenfilm (natürlich, nachdem wir unsere drei Jungs aus dem Haus geschickt haben! 😉 )
Die Kinder auch während der Pubertät zu Hause zu bilden kann auf verschiedenen Ebenen Sorgen und Ängste auslösen. Doch es ist die Mühe wert, und es ist absolut möglich! Es ist sogar DIE grosse Chance, eine enge und gesunde Beziehung zu den Jugendlichen aufzubauen, die bis ins Erwachsenenalter reicht.
Hast du noch mehr Tipps im Umgang mit einem pubertierenden Homeschooler? Was funktioniert bei dir zu Hause?
Ein sehr spannender Artikel. Meine große Tochter wird dieses Jahr eingeschult – Homeschooling wird es also in eurer Form nicht geben, aber die spannenden Diskussionen und Gespräche und das Kein-Bock trotzdem… Ich bin gespannt, denke jetzt aber natürlich erstmal einen Schritt nach dem anderen durch (Bei uns ist es aktuell das Bewerbungsprozedere für die Wunschschule). Deinem Blog folge ich mal 🙂
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Danke und viel Erfolg beim Bewerbungsprozedere!
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Einfach geniale Texte. Toll.
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Vielen Dank!
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Meine Tochter geht in die Regelschuke und besucht das dritte Schuljahr. Vor ein paar Tagen hatten wir ein Gespräch über ihre körperliche Entwicklung, die ihr zum jetzigen Zeitpunkt Angst macht. Homeschooling oder Freilernen , das traue ich mich nicht. Aber Deine Berichte und viele andere machen mir Mut, anders zu reagieren. Wir haben über ihre Angst gesprochen . Natürlich kann sie sich einiges nicht vorstellen, wie z.B ihre Blutung. “ Dann gehe ich nicht zur Schule, wenn ich so was habe. “ Und ich habe geantwortet : “ Das brauchst du nicht, wenn du nicht möchtest. “ Ich habe das nicht nur gesagt, ich meine das so. Danke für deine offenen Worte .
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Danke für deine Worte. Ja, es braucht oft Mut, im Sinne unserer Kinder zu handeln, statt mit der grossen Menge mitzugehen. Ich wünsche dir diesen Mut, das Beste für deine Tochter zu tun!
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